Tradition kann nicht wie ein Trockenobst oder eine fotografische Abbildung konserviert werden. Sie lebt – oder sie ist tot und verkommt zum Gegenstand historischer Forschung. Ein Essay von Georg-Christof Bertsch über ein unit-design Projekt in Südkorea.
In Hahoe und Yangdong, zwei Dörfern des südöstlichen Südkorea, lebt ein Gemeinwesen, das bis auf unser frühes Mittelalter (10. Jh) zurückgeht. Erstaunlich ist, dass dieser Soziotop trotz des biblischen Alters höchst vital ist, dass er bewusst erhalten und sensibel gepflegt wird. Der Arumjigi-Stiftung für Hahoe und Yangdong ist es überdies gelungen, diese beiden Dörfer in den Status des UNESCO Weltkulturerbes erheben zu lassen. Ein Akt, der – vor allem auf Initiative des Zentralgestirns der Stiftung, Professor Li – keineswegs der Musealisierung gleichkommt.
Was wird hier bewahrt? Es handelt sich um ein umfassendes Konzept von Kulturerbe – einerseits um ein Erbe in Form baulicher Strukturen und der damit verbundenen Gegenstände, andererseits um ein Erbe städtebaulicher Strukturen und der Landschaftsnutzung. Kardinalfunktion dieses Schutzes ist jedoch die Erhaltung der Gebräuche, der Lebensformen und der Alltagskultur, also der Lebenswelt der Menschen. Die Bewohner sind keineswegs als schales Ethno-Entertainment zu Volkstänzen für Pauschaltouristen verpflichtet. Sie können so leben, wie sie es seit einem Jahrtausend tun. Dem fatalen Ruf der Moderne nach kategorischer Öffnung zum Neuen muss nach der Zerstörung, die eben diese Moderne auf der Welt angerichtet hat, heute keiner mehr folgen.
Tatsächlich gibt es im Ort Familien, die einen 22 Generationen alten Stammbaum nachweisen können.
Der Legende nach kam ein gewisser Ho im 10. Jahrhundert unserer Zeit an den Fluss Nakdong und ließ sich dort nieder. Es handelt sich also um eine Kultur, welche die gesamte chinesische, japanische, franko-amerikanische Imperialgeschichte überstanden hat, und dabei stets sie selbst geblieben ist. Ein kulturelles Fossil sicherlich, aber eines, das uns allen als hoher sozio-kultureller Wert, als Schatz, als Anstoss zur Reflexion dienen soll. Ob uns nun die Geschlechtertrennung in zahlreichen sozialen Funktion passt oder nicht, ob wir den Speiseplan mögen oder nicht oder ob wir den Ritualen und dem traditionellen Buddhismus folgen wollen oder nicht. Wir können stolz darauf sein, dass zumindest Teile der heute mächtigen Zivilisationen erkannt haben, dass es kleinere, ältere gibt, die deswegen nicht schlechter sein müssen. Dies ermöglicht ein derartiges institutionelles Engagement wie die UNESCO Weltkulturerbe–Aktion zum Schutz der beiden Gemeinden. Hahoe ist das bekanntere der Dörfer, denn es wurde bereits vor Jahrzehnten ethnosoziologisch beschrieben. Dort hat der Nestor der Ethnosoziologe, Claude Lévi Strauss (1908-2009), ein halbes Jahr gelebt. Lévy-Strauss' Untersuchungen der für den Westen fremden Kulturen gipfeln bekanntlich in einem Satz aus seinem Buch «Tristes tropiques» (1955 in Frankreich, 1978, dt. als Traurige Tropen erschienen): der Westen habe «zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt». Mit dieser Fundamentalkritik war die vermeintlich alternativlose radikale Zerstörung jeglicher Gesellschaft gemeint, die dem Westen militärisch, ökonomisch und organisatorisch nicht gewachsen war. Die beiden koreanischen Gemeinden sind strahlende Beispiele von Fragmenten alter Kulturen, die durch Glück, Beharrlichkeit und Umsicht nicht dem allumfassenden Nutzendenken, dem Modernisierungswahn des 20. Jahrhunderts oder schnöde-brutaler Bodenspekulation zum Opfer gefallen sind.
Diese Kulturkapseln, Zeugen alter, vormoderner Riten, versucht man nun mit den Mitteln der Denkmalpflege, der sanften touristischen Erschliessung und der Gewährung weitgehender Autonomie hinsichtlich baulicher, planerischer und verwaltungstechnischer Normen am Leben zu erhalten, um ihnen eine Zukunft zu sichern. «Ethnodisneyland» könnte ein zu kurz gegriffener Ansatz schimpfen. Die prinzipielle Unaufhaltsamkeit des Verfalls dieser Kultur könnte ein pessimistischer Beobachter beklagen. Die spezifische Vitalität und die neue, vor allem innerasiatische Würdigung von Verhaltensweisen als Kulturgut sprechen eine andere Sprache. Hahoe und Yangdong leben. Auch wenn diese Kommunen vor dem Zugriff der Zerstörung geschützt werden konnten, ist es dennoch unmöglich, sie vollständig zu isolieren. Sie müssen interagieren können, also brauchen auch sie Interaktionsschnittstellen, sie brauchen in ihrer Gesamtheit eine Zugänglichkeit. Der koreanische Steuerzahler kann dies verlangen, die Bürger von Hahoe und Yangdong müssen ein Interesse haben, dass elementare Informationen nach aussen vermittelt werden können, schon allein, um sich von allzu aufdringlichen Fragen und der damit verbundenen Zeitverschwendung zu schützen. Hier setzt das Projekt von Bernd Hilpert an, ein Orientierungssystem, das den Ort für Aussenstehende begreifbar machen soll, während es den Bewohnern nicht zu fremd und aufoktroyiert erscheinen darf. Ein Mosaik aus Informationsmodulen, die hoch verdichtete Texte und Pläne tragen muss, um die Komplexität des Beschriebenen vermitteln zu können.
Das Charakteristischste scheint mir hierbei die mit der Bronze inszenierte Trägheit des Materials, die einer locker über den Stein gelegten noch feuchten fetten Tonplatte entspricht.
Drei Facetten des Informationssystems sollen im Zusammenhang betrachtet werden, die interkulturelle Dimension, die technische Umsetzung und die skulpturale Qualität. Durch die Zusammenarbeit mit dem koreanischen Gestalter Ahn Sang-soo (in Korea ein Designer von der Statur Otl Aichers oder Dieter Rams') wird die Brücke von den traditionellen Kommunen über das moderne Korea in den Raum der internationalen Designsprache geschlagen. Die postkoloniale Problematik der Legitimation eines Eingriffs in ein solch heikles historisches Gefüge durch einen Europäer wird dadurch zumindest etwas entschärft. Dennoch stellt sich die einfache Frage, ob ein deutscher Designer die nötige Sensibilität, das Einfühlungsvermögen mitbringen kann, um angemessen mit der Aufgabe umzugehen, eine tausendjährige traditionelle Kultur mit der Aussenwelt zu verbinden. Hilpert gelingt dies, in dem er sich, genau wie die ursprünglichen Bauherren der Gebäude, die Planer der Dörfer, auf die Landschaft als Bezugsrahmen einlässt und mit dem Blick des Produktgestalters die Funktion der Alltagsgegenstände erforscht, nicht nur die Formen. Die Gebäude sind nach traditionellen Regeln in ein harmonisches Verhältnis zur Topografie gebracht. Dies erklärt die ungewöhnliche Ausgewogenheit des Anblicks der Siedlung. Das besonders Bewundernswerte ist die kollektive Idee einer idealen Verbindung von Bau und Landschaft. Dies wohnt bereits der ursprünglichen Gesamtanlage inne und wird stets weiter optimiert.
Hier hilft Hilpert neben seinen intensiven Literaturstudien und zahlreichen Gesprächen insbesondere der ausdauernde Gang durch die Landschaft, also die Betrachtung der Orte aus allen erdenklichen Winkeln. So ergibt sich bei ihm ein inneres Bild, welches die flache Tallage zum Leitmotiv erhebt und diese auf die Kurvatur und das Volumen der Informationselemente überträgt. Dazu kommt das Erlaufen der Landschaftsdimension im Sinne der Lucius Burckhardt'schen Spaziergangswissenschaften, also das Verständnis der räumlichen Dimension aus dem menschlichen Mass. Daraus ergeben sich einerseits formale Leitdetails, andererseits aber auch atmosphärische und morphologische Konsequenzen für die Gestalt der Informationsobjekte. Das Charakteristischste scheint mir hierbei die mit der Bronze inszenierte Trägheit des Materials, die einer locker über den Stein gelegten noch feuchten fetten Tonplatte entspricht. Das kraftvolle Hochrelief der Schrift unterstreicht dies noch zusätzlich. Die plastische Materialität der Informationsfläche wird so auf die Spitze getrieben, ohne sich allzu sehr objekthaft in den Vordergrund zu spielen.